Samstag, 3. November 2012

Epilog

Liebe Leser,
So, inzwischen bin ich seit mehr als einem Monat wieder "off trail". Alles ist anders und ich befinde mich in der sogenannten "re-entry" Phase eines thru-hikes, die es wirklich in sich hat.

Fange ich mit dem leichtesten an: Mein Hunger war ziemlich schnell wieder normal, Gottseidank, und ich erfreue mich an deutschem Brot, Hüttenkäse und Kohlrabi und einfach am selber kochen an sich. Seit zwei Wochen tun meine Füße beim Aufstehen nicht mehr weh und  meine Sehnen und Gelenke haben sich wieder entspannt. Wir hatten zum Schluss alle den sogenannten "hiker hobble" oder auch "pimp-walk": Man steht auf und fühlt sich wie ein Tattergreis und humpelt erstmal erbärmlich umher, bis sich alles wieder eingerenkt hat.
Meine Hobbitfüße verabschieden sich auch grad wieder auf mehr oder weniger spektakuläre Art und meine ganze Sommerbräune ist schon fast wieder weg.
Ich bin überrascht, dass sich der Hiker-Hunger so fix stabilisiert hat, ich bin jetzt eigentlich nie mehr wirklich hungrig. Denn "hungrig" ist relativ: Hier zwickt vielleicht mahr der Magen oder einem tropft der Zahn, aber man ist nicht mehr tagelang mit jeder Faser im Körper HUNGRIG und fantasiert von Törtchen. Solch einen Hunger hatte ich vorher noch nie erlebt; der Körper hat den Stoffwechsel irgendwann so hochgefahren, dass man ständig am Limit balanciert. Ich wurde so ab der Sierra langsam, träge und unkonzentriert schon bevor das eigentliche Hungergefühl einsetzte und dann war es immer höchste Zeit für einen Snack. Und danach ging es zackzack ganz leicht den Berg hoch. Als ob ich wie ein Auto immer wieder aufgetankt werden musste, ohne Reservelampe allerdings.

Schwieriger zu beschreiben ist die Umstellung vom vagabundierenden Waldschrat zurück zum Stadtmenschen. Nachts vermisse ich das Geschnarche und Gewühle meiner Kumpels, das Knacken und Rascheln der Tierchen und die eisige Luft um die Nase. Es ist zu still im Zimmer, stickig und zu viel Platz im Bett. In meinen Träumen gehe ich immer noch, und wenn ich mit der Bummelbahn sieben Stunden lang vom Norden nach Sachsen gondel fühlt sich das besser und normaler an als der Blick aus meinem Fenster und den immer gleichen Wänden. An die Menschenmassen und die vielen Leuten mit ihren maskenhaften, geschminkten Fassadengesichtern habe ich mich fast wieder gewöhnt. Das ärgert mich dann, denn ich will die Erinnerung an die leuchtenden Augen der hiker nicht vergessen und muss mich immer wieder weigern, mich selbst wieder in meinen Großstadtpanzer zu verkriechen. Also quatsche ich weiterhin mit jeder kleinen Oma im Supermarkt und bleibe befremdet von kreischenden, kichernden Gänsen mit unsicherem Blick.

Ich fühle mich so anders als alle, weil ich natürlich weiß, was ich das letzte halbe Jahr gemacht habe. Wenn ich jemand neuem davon erzähle, ist es einfach unmöglich, klar zu machen, w a s ein thru-hike ist und was er mit einem macht. Man latscht ja nicht einfach so ein bisschen umher.
So müssen sich Superman und Spiderman fühlen, wenn sie sich hinter ihren Hornbrillen inkognito geben und ihren normalen Alltag bestreiten und keiner ihre Superkräfte sieht. Nicht dass ich mich wie ein Held fühle, aber ich habe eine neue Dimension gewonnen die keiner begreifen kann, der sie nicht auch hat.

Der Trail, das ewige Laufen und das Leben in der Wildnis waren mein Zuhause geworden. Am Anfang hatte ich (und eigentlich jeder zivilisierte Mensch) so eine romantische Vorstellung von der Natur und vom Wandern. Ach, jeder Sonnenaufgang ist so unendlich schön, die Vögel zwitschern lieblich und jeder Busch wirkt wie von Gottes Hand pittoresk drapiert. Irgendwann verschwindet das und man schlägt auf dem Boden der Tatsachen auf. Die meisten gehen einen Tag, eine Woche oder gar drei in die "Wildnis" und lassen die "Seele baumeln". Und dann fahren sie in die Sicherheit zurück, wo es genug zu Essen, sauberes Wasser, Ärzte und eine käferfreie Wohnung gibt. Uns blieb das nicht und man lernte langsam, dass es der Natur total egal ist, ob man gerade da ist oder nicht. Man ist abhängig. Abhängig vom Wetter, dem Wasser, der Gunst der Tiere und völlig für sich selbst verantwortlich. Jeder noch so kleine Fehler kann sehr sehr schmerzhaft werden. Eigentlich ist man der Natur noch nicht mal egal, sie will einem an den Kragen und man muss sich aktiv schützen. Und gewöhnen. Auf vieles haben wir nicht verzichtet, sondern uns einfach umgestellt: Es fiel mir nicht mehr auf, wenn ich überall vor Dreck starrte, jedes überflüssige Hygieneritual wurde wegrationalisiert. Zähneputzen und Waschen verbraucht Wasser, das muss man tragen und sollte es lieber trinken. Wenn mir Spinnen, Ameisen oder Käfer nachts durch den Schlafsack krabbelten, wurden sie maximal unwirsch rausgesammelt. Mein Abwaschwasser habe ich einfach getrunken, nachdem ich maximal mit dem Finger kurz im Topf umgerührt hatte, selbst ein Lagerfeuer war irgendwann zu aufwendig. Die Tiere wurden meine Brüder, die Bären wie unsere Seelenverwandten, die Elk haben Schlaflieder und Weckrufe gesungen und die Chipmunks waren wie streitsüchtige Nachbarn.
Wenn man sich daran nicht gewöhnen kann, wird die schöne Natur auf die Dauer unerträglich. Also verschwindet die Romantik und langsam aber sicher ändert man sich selbst und wird ein Teil des "da Draußen". Ein bisschen wilder, ein bisschen sicherer, ein bisschen echter.
Bestes Beispiel dafür ist das Zelt. Während ich am Anfang das Zelt nur dann nicht aufstellte, wenn ich abends einfach keinen Platz dafür fand, wurde es später nur noch aufgebaut, wenn akut Regen drohte. Und selbst dann hatte ich den Boden und das Fliegennetz schon gar nicht mehr mit und das Zelt bestand lediglich aus einem Tarp. Während ich am Anfang unter freiem Himmel nicht wirklich gut schlief, bei jedem Knistern und Knacken aufschreckte, schlief ich nachher in jeder Felsspalte und nebem einem Gletscher wie ein Baby, die Sternchen blinkten mich in den Schlaf und die Eichhörnchen bewarfen mich zum Aufstehen mit Tannenzapfen. Den Schlafsack machte ich nichtmal zu und wachte morgens meistens mit dem Gesicht im Waldboden auf. Das ist für mich weder romantisch schööööön noch eklig oder unangenehm, sondern einfach eher heimelig und normal geworden.
Anderes Beispiel: Mr. Pibb, MadDog Murph und ich setzten und zum Mittag an einen hübschen kleinen Bergsee im Lassen Nationalpark. Unsere Rucksäcke explodierten haufenweise Junkfood, wir rissen schmutzige Witze und MadDog holte schließlich sein Iphone heraus und spielte schlechten Technopop aus Frankreich. Die anderen Nationalparkbesucher, sogenannte "dayhikers", wandelten andächtig den Weg entlang, unterhielten sich wenn dann flüsternd, atmeten tief ein und aus und guckten jeden Stein und jeden Busch penetrant an. Und dann fragten sie sich, wer denn diese ungehobelten Hobos dort drüben wären. Und wir dachten: "Hey, wir wohnen hier! Habt ihr einen Keks?"
Manchmal tauchten diese dayhiker auch ganz unvermittelt auf. Meistens erzählt man sich den lieben langen Tag Geschichten mit seinen hikerbuddies, lacht und grölt viel dabei. Einmal schockte ich eine kleine Familie, die uns plötzlich entgegenkam, als ich grade laut lachend zu Mr. Pibb rief: "... and you know, she had this gigantic, HUGE ass!!" Vorbei das idyllische Panorama.


Ich vermisse die Einfachheit. Den kleinen übersichtlichen Rucksack. Den stetigen Rhytmus, der durch meinen Körper schlägt. Die hiker ganz besonders. Nirgends sonst findet man so strahlende, intensive, glückliche, vor Enthusiasmus förmlich sprühende Menschen. Wenn einem mal das Strahlen ausging wusste man: der bricht bald ab. Auch anderswo gibt es glückliche Menschen, die ihre Träume leben, aber die hiker treten natürlich erstens geballt auf und zweitens verstecken sie Ihre Freude nicht. Sie haben keine Hemmungen, keinen Panzer und selbst der schüchternsde, sonst griesgrämige Eremit erzählt dir sofort seine Lebensgeschichte, wenn du ihm einen Keks reichst (Kekse sind wichtig) und die Ohren aufsperrst.

Auch wenn ich also zum Schluss dachte, ich hätte auf das nie enden wollende Gelatsche und die schiere Anstrengung jeder Minute keinen Bock mehr und würde erstmal nicht wieder länger wandern wollen, so bin ich jetzt schon fast felsenfest davon überzeugt, dass das nicht mein letzter long-distance-hike war. Diese berauschende Freiheit und das Lebensgefühl eines thru-hikers sind einfach unschlagbar. Auch wenn mein "normales" Leben ziemlich gut ist und ich auch weiterhin spannende Dinge vorhabe, so bleibt "The Trail" doch immer im Hinterkopf herumspukend.

Magisch. Episch.